Das Neue

Es ist noch nicht lang her, da galt eine Tätowierung als anrüchig. Und ein Graffiti verbinden viele mit Vandalismus. Obwohl es beide Ausdrucksformen schon seit sehr langer Zeit gibt – Graffiti hat man in Pompeji gefunden und Tätowierungen am Ötzi – sind sie erst vor recht kurzer Zeit zu anerkannten Kunstformen avanciert. Anders ist es mit der Fotografie: Sie gibt es noch nicht so lang, und sie hatte auch keinen schlechten Ruf. Dass sie als Kunst wahrgenommen wird, war allerdings auch bei ihr anfangs nicht selbstverständlich. Als eigene Kunstrichtung setzte sich die Fotografie erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch. Und auch heute noch dienen die meisten Fotografien ja eher der Dokumentation oder der Erinnerungsstütze als dem künstlerischen Ausdruck.
Das ist bei allen Unterschieden die Gemeinsamkeit der zwei Künstler und der Künstlerin, die wir an diesem Achsenpunkt vorstellen.


Wir stehen an zwei von dem Stuttgarter Urban-Art-Künstler Jeroo gestalteten Transformatorenhäuschen. Anders als bei den Graffitis, die alltäglich – oder sollten wir sagen: allnächtlich? – an Hauswänden, Verkehrsschildern und dergleichen auftauchen, handelt es sich bei diesem um eine Auftragsarbeit, und man kann wohl unwidersprochen behaupten, dass dieses Werk die Gebäude verschönert. Jeroo, mit bürgerlichem Namen Christoph Ganter, hat solche Werke über nunmehr mehr als dreißig Jahre inzwischen tausendfach auf der ganzen Welt hinterlassen, z.B. in Toulouse, in Wien, in Israel, oder eben an mehreren Stellen in Ostfildern. Streng genommen ist das Bild kein Graffiti, sondern ein Mural, aber die Grenzen sind fließend, und Jeroo fertigt auch ebenso eindrucksvolle Graffitis an.
Der Vogel mit dem langen Schnabel ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in Jeroos Oeuvre, und überhaupt zieht sich die Inspiration von Formen aus der Natur deutlich erkennbar durch sein ganzes Werk.


Auch wenn bei Sarah Wittig, die sich selbst Paläa nennt, die Farben und Settings häufig düsterer sind, bezieht sie ebenfalls ihre Eingebungen aus den Formen der Natur, aus Biologie und Medizin. Gerne holt sie sich auch Vorlagen aus der Paläontologie, also von Fossilien. Außerdem prägen sie die japanische Mythologie und Anime-Kunst. Sarah Wittig, die schon immer in Ostfildern und seit 2016 in Kemnat lebt, ist Tattoo-Künstlerin, aber man kann sie nicht auf eine Sparte festlegen, denn sie macht ebenso eindrucksvolle Buchillustrationen und Kleinstplastiken. So findet man bei ihr den Ichthyosaurier auf einer Wade, den Pottwal auf dem Ellenbogen, den Entwurf für einen Trickfilm zum Pflegenotstand, ein Booklet mit DVD über berühmte Film- und Serienautos oder den Dodo als Schlüsselanhänger. Ihre Werke sind um einiges kleiner als die von Jeroo, dafür ist aber Ihre Bandbreite beeindruckend.


Logisch, dass Fotografien eher die Realität abbilden als von Dinosauriern inspirierte Tattoos. Aber das heißt nicht, dass die Fantasie und Gestaltungskraft bei dem Kemnater Fotografen Nicolai Rapp nur eine geringe Rolle spielen würde. Bei ihm steht die Darstellung aktuell relevanter politischer und wirtschaftlicher Phänomene im Vordergrund. Zu diesem Zweck begibt er sich oft mitten hinein in die Brennpunkte. Er war viel in Afrika, z.B. in Slums in Maputo, Mosambik, unterwegs. So entstehen seine Arbeiten zunächst als Dokumentation, werden aber häufig von ihm weiter bearbeitet und verfremdet, aber dadurch wird ihre Botschaft nicht verfälscht, sondern intensiviert. Wenn ein Portrait durch die Bearbeitung bedrohlich wirkt, dann um die Bedrohung des Porträtierten zu verdeutlichen. Aber auch die unbearbeiteten Bilder, etwa von Schlafzimmern im Slum, zeigen sowohl das gestalterische Gespür des Fotografen als auch die menschlichen Nöte und den Behauptungswillen der Bewohner.

Was meint Ihr? Welche Kulturtechniken, von denen man das heute vielleicht noch gar nicht ahnt, werden sich in zwanzig oder fünfzig Jahren als Künste etabliert haben?


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